Ophelias Schattentheater

(von Michael Ende)

 

In einer kleinen alten Stadt lebte ein altes Fräulein mit Namen Ophelia. Als sie zur Welt gekommen war- und das war nun freilich schon lange her-, hatten ihre Eltern gesagt: Unser Kind soll einmal eine große, gefeierte Schauspielerin werden. Deshalb hatten sie ihr den Namen einer berühmten Gestalt aus einem Schauspiel gegeben.
Das kleine Fräulein Ophelia hatte zwar die Bewunderung ihrer Eltern für die große Sprache der Dichter geerbt aber sonst nichts.

Und eine berühmte Schauspielerin konnte sie auch nicht werden. Dazu war ihre Stimme zu leise. Aber irgendwie wollte sie doch der Kunst dienen, wenn auch auf ganz bescheidene Weise.
In der kleinen Stadt gab es ein hübsches Theater. Ganz vorn am Bühnenrand befand sich ein Kasten, der zum Zuschauerraum hin verdeckt war. Dort drin saß Fräulein Ophelia allabendlich und flüsterte den Schauspielern die Worte ihrer Rollen zu, damit sie nicht stecken blieben. Dazu war die leise Stimme von Fräulein Ophelia natürlich gerade richtig, denn das Publikum sollte sie ja nicht hören.

Ihr ganzes Leben lang hatte Fräulein Ophelia diesen Beruf ausgeübt und war glücklich dabei. Nach und nach lernte sie alle großen Komödien und Tragödien der Welt auswendig und sie brauchte kein Buch mehr, um nachzusehen.

So war Fräulein Ophelia alt geworden, und die Zeiten hatten sich geändert. Immer weniger Menschen kamen, um sich im Stadttheater die Stücke anzusehen, denn es gab jetzt Kino und Fernsehen und andere Zerstreuungen. Die meisten Leute hatten Autos, und wenn sie schon einmal ins Theater gehen wollten, dann fuhren sie lieber rasch in die nächste Großstadt hinüber, wo viel berühmtere Schauspieler zu sehen waren und wo es so viel mehr hermachte sich selbst sehen zu lassen.

So kam es, dass das Theater der kleinen Stadt geschlossen wurde, die Schauspieler gingen fort und auch dem kleinen Fräulein Ophelia wurde gekündigt.

Als die letzte Vorstellung vorüber war und der letzte Vorhang gefallen war, blieb sie ganz allein noch für ein Weilchen im Theater. Sie saß in ihrem Kasten und dachte an ihr Leben zurück. Plötzlich sah sie einen Schatten, der über die Kulissen hin und her huschte, manchmal größer, und dann wieder kleiner wurde. Aber da war niemand, der ihn hätte werfen können.

„Hallo!“, sagte Fräulein Ophelia mit ihrer leisen Stimme. „wer ist denn da?“ Der Schatten erschrak sichtlich und schrumpfte zusammen, er hatte sowieso keine bestimmte Form, aber dann fasste er sich und wurde wieder größer.

„Verzeihung!“, sagte er. „Ich wusste nicht, dass da noch jemand ist. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin hier nur untergeschlüpft, weil ich nicht weiß, wo ich bleiben soll. Bitte, jagen Sie mich nicht weg.“

„Bist du ein Schatten?“, fragte Ophelia.

Der Schatten nickte.

„Aber ein Schatten gehört doch zu jemand“, fuhr sie fort.

„Nein“, sagte der Schatten, „nicht alle. Es gibt ein paar überzählige Schatten auf der Welt, die zu niemandem gehören und die niemand haben will. Ich bin so einer. Ich heiße Schattenschelm.“

„So“, sagte Fräulein Ophelia, „und ist das nicht traurig, so ohne jemand zu sein, zu dem man gehört?“

„Sehr traurig“, versicherte der Schatten und seufzte leise, „aber was soll man machen?“

„Willst du zu mir kommen?“, fragte das alte Fräulein. „Ich habe auch niemanden, zu dem ich gehöre.“

„Gern“, antwortete der Schatten, „das wäre wunderbar. Aber ich muss dann an Ihnen festwachsen, und Sie haben doch schon einen eigenen Schatten.“

„Ihr werdet euch schon vertragen“, sagte Fräulein Ophelia.

Ihr eigener Schatten nickte.

 

Von da an hatte Fräulein Ophelia zwei Schatten. Es waren nur wenige Leute, die es bemerkten, aber die wunderten sich und fanden es etwas seltsam. Fräulein Ophelia wollte nicht ins Gerede kommen, deshalb bat sie jeweils einen der beiden Schatten sich tagsüber ganz klein zu machen und in ihr Handtäschchen zu schlüpfen. Schatten haben ja überall Platz.

 

Eines Tages saß Fräulein Ophelia in der Kirche und redete ein wenig mit dem lieben Gott in der Hoffnung, dass er ihr trotz ihrer leisen Stimme zuhörte (ganz sicher war wusste sie es nicht) da sah sie plötzlich an der weißen Wand einen Schatten, der einen sehr abgemagerten Eindruck machte und, obgleich er nach nichts Bestimmten aussah, bittend eine Hand ausstreckte.

„Bist du auch ein Schatten, der zu niemanden gehört?“, fragte sie.

„ja“, sagte der Schatten, „aber es hat sich herumgesprochen, dass es jemanden gibt, der uns aufnimmt. Bist du das?“

„Ich habe schon zwei“, antwortete Fräulein Ophelia.

„Dann kommt es doch auf einen mehr auch nicht an“, meinte der Schatten flehend. „Könntest du mich auch annehmen? Es ist so traurig, wenn man niemanden hat.“

„Wie heißt du denn?“, fragte das alte Fräulein freundlich.

„Mein Name ist Dunkelangst“, flüsterte der Schatten.

„Na, komm nur“, sagte Fräulein Ophelia.

Da hatte sie nun also schon drei Schatten.

Von nun an kamen fast täglich neue herrenlose Schatten zu ihr, denn es gibt viele davon auf der Welt.

Der vierte hieß Hein Allein.

Der fünfte hieß Siechnacht.

Der sechste hieß Nimmermehr.

Der siebente hieß Leereschwere.

Und so ging es immer weiter. Das alte Fräulein Ophelia war arm, aber zum Glück brauchten die vielen Schatten ja nichts zu essen und keine Kleider, um sich warm zu halten.

Nur ihre kleine Stube war manchmal sehr dunkel und überfüllt von den vielen Schatten, die bei ihr blieben, weil sie sonst niemand wollte. Fräulein Ophelia hatte nicht das Herz sie wegzuschicken. Und es kamen immer noch mehr.

 

Am schlimmsten war es, wenn die Schatten zu streiten anfingen. Sie zankten sich um den besten Platz und rangen oft miteinander, und manchmal gab es ein richtiges Schattenboxen. In solchen Nächten konnte das kleine alte Fräulein Ophelia nicht schlafen. Dann lag sie mit offenen Augen im Bett und versuchte mit leiser Stimme die Schatten zu beschwichtigen. Aber es half nicht viel.

Fräulein Ophelia mochte keinen Streit, außer er wurde in der großen Sprache der Dichter auf dem Theater ausgetragen. Das war etwas anderes. Und so kam sie eines Tages auf eine gute Idee.

 

„Hört mal zu“, sagte sie zu den Schatten, „wenn ihr bei mir bleiben wollte, dann müsst ihr etwas lernen.“ Die Schatten hörten auf zu streiten und schauten sie erwartungsvoll aus allen Winkeln der kleinen Stube an. Da sprach sie ihnen die großen Worte der Dichter vor, die sie ja alle auswendig wusste. Sie wiederholte manche stellen ganz langsam und forderte dann die Schatten auf die Sätze nachzusprechen. Die Schatten gaben sich große Mühe und waren auch sehr gelehrig.

So lernten sie nach und nach vom alten kleinen Fräulein Ophelia alle großen Komödien und Tragödien der Welt.

 

Das war nun natürlich ein ganz anderes Leben als bisher, denn Schatten können ja alles darstellen, was man will, sie können aussehen wie ein Zwerg oder ein Riese, wie ein Mensch oder ein Vogel oder auch wie ein Baum oder ein Tisch.

 

Und oft spielten sie ganze Nächte lang vor Fräulein Ophelia die wunderbarsten Schauspiele. Und sie flüsterte ihnen die Worte zu, damit sie nicht stecken blieben.

Tagsüber wohnten sie alle – außer ihrem eigenen natürlich – in Fräulein Ophelias Handtäschchen. Ja, Schatten können sich, wenn sie wollen, unglaublich klein machen.

 

Die Leute bekamen die vielen Schatten Fräulein Ophelias also nie zu sehen, aber sie merkten doch, dass da etwas Ungewöhnliches vorging. Und Ungewöhnliches mögen die Leute nicht gern.

„Das alte Fräulein ist wunderlich“, sagten die einen hinter ihrem Rücken. „Man sollte sie besser in ein Heim bringen lassen, wo für sie gesorgt wird.“ Und die anderen sagten: „Vielleicht ist sie verrückt. Wer weiß, was sie eines Tages noch anstellen wird.“ Und alle gingen ihr aus dem Weg.

 

Schließlich kam der Besitzer des Hauses, in dem Fräulein Ophelia ihr Kämmerchen hatte, und sagte: Es tut mir Leid, aber ab jetzt müssen Sie doppelt so viel Miete bezahlen wie bisher.“ Das konnte Fräulein Ophelia nicht.

„Dann“, sagte der Hausbesitzer, „ist es wohl besser, wenn Sie ausziehen, so Leid es mir tut.“

 

Da packte Fräulein Ophelia alles, was sie besaß, in einem Koffer, es war ja nicht viel, und ging fort. Sie kaufte sich eine Fahrkarte, setzte sich in einen Zug und fuhr in die Welt hinaus, sie wusste selbst nicht wohin.

 

Als sie weit genug gefahren war, stieg sie aus und ging zu Fuß. Ihren Koffer trug sie in der einen Hand und in der anderen ihr Handtäschchen mit den vielen Schatten darin.

Es war eine lange, lange Straße.

Zuerst kam Ophelia ans Meer, da konnte sie nicht mehr weitergehen. Darum setzte sie sich hin, um ein wenig auszuruhen, und sie schlief ein.

 

Die vielen Schatten kamen aus ihrem Handtäschchen und standen um sie her und berieten untereinander, was nun geschehen sollte.

„Eigentlich“, sagten sie, „ist es ja unseretwegen, dass Fräulein Ophelia nun in dieser Lage ist. Sie hat uns geholfen, und jetzt sollten wir versuchen ihr zu helfen. Wir haben doch alle etwas von ihr gelernt, vielleicht gelingt es uns damit für sie zu sorgen.

Und als Fräulein Ophelia aufwachte, erzählten sie ihr von dem Plan, den sie gefasst hatten. „Ach“, sagte Fräulein Ophelia, „das ist aber wirklich nett von euch.“

 

Als sie in ein kleines Dorf kam, nahm sie aus ihrem Koffer ein weißes Bettlaken und hängte es über eine Teppichstange. Sofort begannen die Schatten auf dem Tuch die Schauspiele aufzuführen, die sie von Fräulein Ophelia gelernt hatten. Und sie selbst saß dahinter und flüsterte ihnen die großen Worte der Dichter zu, damit sie nicht stecken blieben.

 

Erst kamen ein paar Kinder und schauten staunend zu, aber gegen Abend kamen auch einige Erwachsene und jeder bezahlte am Schluss eine Kleinigkeit für die interessante Vorstellung.

 

So zog Fräulein Ophelia nun von Dorf zu Dorf und von Ort zu Ort, und ihre Schatten verwandelten sich in Könige und Narren, in edle Jungfrauen und feurige Hengste, in Zauberer und Blumen, je nachdem.

Die Leute kamen herbei und schauten zu und mussten lachen und weinen. Bald war Fräulein Ophelia berühmt, und wenn sie irgendwo hinkam, dann wurde sie schon erwartet, denn so etwas hatte man nie zuvor gesehen. Das Publikum klatschte Applaus und jeder bezahlte etwas, der eine mehr, der andere weniger.

 

Nach einiger Zeit hatte Fräulein Ophelia genug Geld gespart, um sich ein kleines altes Auto kaufen zu können. Sie ließ es von einem Künstler schön bunt verzieren und auf beiden Seiten stand in großen Buchstaben:

OPHELIAS SCHATTENTHEATER

Damit fuhr sie nun durch die ganze weite Welt und ihre Schatten fuhren mit.

 

Hier könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein, aber sie ist es noch nicht.

Eines Tages nämlich, als Fräulein Ophelia mit ihrem Auto in einen Schneesturm geriet und stecken blieb, stand plötzlich vor ihr ein riesengroßer Schatten der noch viel dunkler war als all die anderen.

„Bist du auch einer von denen“, fragte sie, „die niemand will?“

„Ja“, sagte der Schatten langsam, „ich glaube, so kann man sagen.“

„Willst du auch zu mir?“, fragte Fräulein Ophelia.

„Würdest du mich auch noch annehmen?“, erkundigte sich der große Schatten und kam näher.

„Ich habe zwar schon mehr als genug“, meinte das alte Fräulein, „aber irgendwo musst du ja wohl bleiben.“

„Willst du nicht zuerst meinen Namen wissen?“, fragte er.

„Wie heißt du denn?“

„Man nennt mich den Tod.“

Dann war es längere Zeit still.

 

„Willst du mich trotzdem annehmen?, fragte er schließlich sanft.

„Ja“, sagte Fräulein Ophelia, „komm nur.“

 

Da um hüllte sie der große kalte Schatten und die Welt wurde dunkel um sie her. Aber dann war ihr plötzlich, als gingen ihr ganz neue Augen auf, Augen, die jung waren und klar und nicht mehr alt und kurzsichtig. Und sie brauchte nun keine Brille mehr, um zu sehen, wo sie war.

 

Sie stand vor dem Himmelstor, und um sie herum standen viele wunderschöne Gestalten in farbenprächtigen Kleidern und lachten ihr zu. „Wer seid ihr denn?“, fragte Fräulein Ophelia.

„Kennst du uns nicht mehr?“, sagten sie. „Wir sind doch die überzähligen Schatten, die du bei dir aufgenommen hast. Nun sind wir erlöst und müssen nicht mehr herumirren.“

 

Das Himmelstor ging auf und die lichten Schatten gingen hinein und führten in der Mitte das kleine alte Fräulein Ophelia. Sie geleiteten sie zu einem wunderbaren Palast, der war aber das schönste und prächtigste Theater, das sich denken lässt.

Über dem Eingang stand in großen goldenen Lettern:

 

OPHELIAS LICHTBÜHNE

 

Und dort spielte sie nun seither vor den Engeln die Geschicke der Menschen in der großen Sprache der Dichter, die auch die Engel verstehen und die daraus lernen, wie elend und wie großartig, wie traurig und wie komisch es ist, ein Mensch zu sein und auf Erden zu wohnen.


Und Fräulein Ophelia flüstert ihren Darstellern die Worte zu, damit sie nicht stecken bleiben.

 

Übrigens heißt es, dass auch der liebe Gott manchmal kommt, um zuzuhören. Aber ganz sicher weiß das niemand.

 

 

 

Handlungsschritte:

 

Status quo:              Ihr Dienst als Souffleuse endet

Aufbruch:                 Sie nimmt sich der Schatten an

Herzensprüfung:       Sie jagt die streitenden Schatten nicht fort,                                 sondern lehrt sie

Kampf und Sieg:       Sie wird vertrieben, die Schatten haben                                       eine Idee

Rückweg:                 Sie touren als Schattentheater durchs Land

Heimkehr:                Der Schneesturm

Hochzeit:                 Der Himmel

 

 

 

 

Diese Geschichte bedarf keiner Deutung!

 

 

 

 

Diese kleine tief berührende Erzählung über die Dichtung, das Alter und den Tod erschien 1988 zum ersten Mal im Thienemann Verlag. In Michael Endes Leben hatte es zwei dramatische Einschnitte gegeben, die ihn mit der Vergänglichkeit des Lebens und aller irdischer Güter konfrontiert hatten.
Am 27.März 1984 starb seine Frau, die Schauspielerin Ingeborg Hoffmann, die für Michael Ende Muse und hilfreiche Kritikerin seiner Werke war. Er verlässt daraufhin seinen Wohnsitz in Italien und geht zurück nach München, um neu anzufangen.
Drei Jahre später erfährt der Schriftsteller, dass ihn sein Steuerberater betrogen und Schulden in Millionenhöhe zurückgelassen hat.