Die Gier-Gesellschaft

oder was das Märchen von der Goldenen Gans zu tun hat, mit der wirtschaftlichen, sozialen Situation unserer Zeit, und der spirituellen Entwicklung des Einzelnen.

 

 

Märchen:

„Die goldene Gans“, Gebrüder Grimm (gekürzt)

 

 

Es war einmal ein Mann, der hatte drei Söhne, davon hieß der jüngste Dummling, und wurde verachtet und verspottet, und bei jeder Gelegenheit zurückgesetzt.

 

Es geschah, daß der älteste in den Wald gehen wollte, Holz hauen, und eh er ging, gab ihm noch seine Mutter einen schönen feinen Eierkuchen und eine Flasche Wein mit, damit er nicht Hunger und Durst erlitte.

 

Als er in den Wald kam, begegnete ihm ein altes graues Männlein, das bot ihm einen guten Tag und sprach: „Gib mir doch ein Stück Kuchen aus deiner Tasche, und laß mich einen Schluck von deinem Wein trinken, ich bin so hungrig und durstig“. Der kluge Sohn aber antwortete: „Geb ich dir meinen Kuchen und meinen Wein, so hab ich selber nichts, pack dich deiner Wege“, ließ das Männlein stehen und ging fort.

 

Als er nun anfing, einen Baum zu behauen, dauerte es nicht lange, so hieb er fehl, und die Axt fuhr ihm in den Arm, daß er mußte heimgehen und sich verbinden lassen. Das war aber von dem grauen Männlein gekommen.

 

Darauf ging der zweite Sohn in den Wald, und die Mutter gab ihm, wie dem ältesten, einen Eierkuchen und eine Flasche Wein. Dem begegnete gleichfalls das alte graue Männlein und hielt um ein Stück Kuchen und einen Trunk Wein an. Aber der zweite Sohn sprach auch ganz verständig: „Was ich dir gebe, das geht mir selber ab, pack dich deiner Wege“, ließ das Männlein stehen und ging fort. Die Strafe blieb nicht aus, als er ein paar Hiebe am Baum getan, hieb er sich ins Bein, daß er mußte nach Haus getragen werden.

 

Da sagte der Dumling: „Vater, laß mich einmal hinausgehen und Holz hauen.“ Antwortete der Vater: „Deine Brüder haben sich Schaden dabei getan, laß dich davon, du verstehst nichts davon.“ Der Dummling aber bat so lange, bis er endlich sagte: „Geh nur hin, durch Schaden wirst du klug werden.“ Die Mutter gab ihm einen Kuchen, der war mit Wasser in der Asche gebacken, und dazu eine Flasche saures Bier.

 

Als er in den Wald kam, begegnete ihm gleichfalls das alte graue Männlein, grüßte ihn und sprach: „Gib mir ein Stück von deinem Kuchen und einen Trunk aus deiner Flasche, ich bin so hungrig und durstig.“ Antwortete der Dummling: „ Ich habe aber nur Aschenkuchen und saueres Bier, wenn dir das recht ist, so wollen wir uns setzen und essen.“ Da setzten sie sich, und als der Dummling seinen Aschenkuchen herausholte, so wars ein feiner Eierkuchen, und das sauere Bier war ein guter Wein. Nun aßen und tranken sie, und danach sprach das Männlein: „Weil du ein gutes Herz hast und von dem deinigen gerne mitteilst, so will ich dir Glück bescheren. Dort steht ein alter Baum, den hau ab, so wirst du in den Wurzeln etwas finden.“ Daraufhin nahm das Männlein Abschied.

Der Dummling ging hin und hieb den Baum um, und wie er fiel, saß in den Wurzeln eine Gans, die hatte Federn von reinem Gold. Er hob sie heraus, nahm sie mit sich und ging in ein Wirtshaus, da wollte er übernachten. Der Wirt hatte aber drei Töchter, die sahen die Gans, waren neugierig, was das für ein wunderlicher Vogel wäre, und hätten gar gern eine von seinen goldenen Federn gehabt. Die älteste dachte: „Es wird sich schon eine Gelegenheit finden, wo ich mir eine Feder ausziehen kann.“ Und als der Dummling einmal hinausgegangen war, faßte sie die Gans beim Flügel, aber Finger und Hand blieben ihr daran festhängen.

 

Bald danach kam die zweite und hatte keinen anderen Gedanken, als sich eine goldene Feder zu holen. Kaum aber hatte sie ihre Schwester angerührt, so blieb sie festhängen. Endlich kam auch die dritte in gleicher Absicht. Da schrieen die anderen: „Bleib weg, um Himmelswillen, bleib weg.“ Aber sie begriff nicht, warum sie wegbleiben sollte, dachte: „Sind die dabei, so kann ich auch dabei sein,“ sprang herzu, und wie sie ihre Schwestern angerührt hatte, so blieb sie an ihr hängen. So mußten sie die ganze Nacht bei der Gans zubringen.

 

Am anderen Morgen nahm der Dummling die Gans in den Arm, ging fort und bekümmerte sich nicht um die drei Mädchen, die daranhingen. Sie mußten immerhinter ihm drein laufen, links und rechts, wies ihm in die Beine kam.

 

Mitten auf dem Felde begegnete ihnen der Pfarrer, und als er den Aufzug sah, sprach er. „Schämt Euch, Ihr garstigen Mädchen, was lauft Ihr dem jungen Burschen durchs Feld nach, schickt sich das?“ Damit faßte er die jüngste an die Hand und wollte sie zurückziehen; wie er sie aber anrührte, blieb er gleichfalls hängen und mußte selber hinterdrein laufen.

 

Nicht lange, so kam der Küster daher, sah den Herrn Pfarrer, der drei Mädchen auf dem Fuß folgte. Da verwunderte er sich und rief: „Ei, Herr Pfarrer, wohinaus so geschwind? Vergeßt nicht, daß wir heute eine Kindstaufe haben!“, lief auf ihn zu und faßte ihn am Ärmel, blieb auch dran festhängen.

 

Wie die fünf so hintereinander hertrabten, kamen zwei Bauern mit ihren Hacken vom Feld. Da rief der Pfarrer sie an und bat, sie möchten ihn und den Küster losmachen. Kaum aber hatten sie den Küster angerührt, so blieben sie hängen, und waren ihrer nun siebene, die dem Dummling mit der Gans nachliefen.

 

Er kam in eine Stadt, da herrschte ein König, der hatte eine Tochter, die war so ernsthaft, daß sie niemand zum Lachen bringen konnte. Darum hatte er ein Gesetz gegeben, wer sie könnte zum Lachen bringen, der sollte sie heiraten.  Der Dummling, als er das hörte, ging mit seiner Gans und ihrem Anhang vor die Königstochter, und als diese die sieben Menschen immer hintereinander herlaufen sah, fing sie überlaut an zu lachen und wollte gar nicht wieder aufhören.

 

Und als der König das sah, konnte er ihm seine Tochter nicht länger vorenthalten. Die Hochzeit ward gefeiert, nach des Königs Tod erbte der Dummling das Reich, und lebte lange Zeit vergnügt mit seiner Gemahlin.

 

 

Handlungsschritte:

 

Status quo:               Die Familie und der Dummling

Aufbruch:                  Der Auftrag zum Holzhacken

Herzensprüfung:     Der Älteste scheitert am Geiz

                                    Der Zweitgeborene scheitert am Geiz

                                    Der Dummling teilt

Kampf und Sieg:      Fällen des Baums, Auffinden der Goldenen Gans

Rückweg:                  Die Anklebenden

Heimkehr:                 Die Prinzessin lacht

Hochzeit:                   Hochzeit

 

 

Deutung

 

Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei gleich vorangestellt, dass es sich bei dieser Deutung nur um eine von vielen handeln kann. Es gibt ganz verschiedene Wahrheiten, die man aus einem Märchen herauslesen kann, und ich biete dieses spezielle „Tortenstück“ an:

 

Da ist von drei Gruppen die Rede:

·         die Bauern

·         die „Anklebenden“

·         die Königsfamilie

 

Und dann gibts noch zwei Außenseiter:

·         den Dummling und

·         die Prinzessin, die nicht lacht

 

 

Ausgangspunkt:

Da die Bauern, dort der Königshof:

 

Die Bauern

„Bauern“ bedeutet, es sich arme Leute. Da herrscht augenscheinlich Mangel und der soll behoben werden und das Mangeldenken ist so groß, dass von dem Besitz auf keinen Fall was abgegeben werden kann.

Diese Gruppe

repräsentiert die „Geiz ist geil!“ Mentalität.

 

Gängige Werbeslogans, die dieses Klischee bedienen: „Ich bin doch nicht blöd, Mann!!“ „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ oder „Ich habe nichts zu verschenken“.

 

Und da ist einer, der sagt: Das brauch ich nicht. Ich hab genug!

Schön blöd, sagen die anderen. Ein Blöd-Mann, ein Dummling eben!

 

Die Königsfamilie

ist nicht geizig. Da herrscht Verschwendung pur: „Geh doch shoppen, das ist lustig. Wir können uns das doch leisten! Reparieren? Stopfen, Knopf annähen? Wirf es weg! Kauf dir was Neues! Das ist lustig! Happy shopping! Das Leben ist ein Hit! etc“ Fernsehwerbung: „Die Leute sagen immer, ich kauf so viele Schuhe. Ich kauf doch nicht viele Schuhe, ich kauf High Heels, Pantoffeln, Stiefel, Pumps, Pantoletten, Sandalen...und nur ein Paar ....von jeder Farbe!“ „Schrei vor Glück!“

 

Doch auch dahinter steht der Mangel. Man weiß die Fülle nicht zu nutzen, sie wird verschleudert. Materielle und geistige Neu-Gier!

 

Körperlich ausgedrückt sind beide Familien nicht gesund:

Die einen leiden an Verstopfung, die anderen an Durchfall.

 

  

Die „Anklebenden“ =Dran-Bleiben

 

Das sind insgesamt sieben Personen,

·         drei Personen aus dem Gasthaus,

·         zwei von der Kirche und

·         zwei Bauern.

Diese Gruppe steht für die Kommunikation in der Gesellschaft. Wo gab es denn früher die Möglichkeit zur Information und zum Meinungsaustausch? Im Gasthaus, in der Kirche und mit dem Nachbarn.

 

Bei dieser Gruppe handelt es sich um geistige Hab- und Neugier. Da ist was los, da muss ich hin, das muss ich wissen! Dabei übersehen die Menschen, dass sie am fremden Schicksal kleben bleiben, anstatt das eigene zu leben. Das ist die Gruppe, die immer und alles wissen und kommentieren muss, („Bleiben Sie dran, schalten Sie wieder ein, selbe Zeit, selber Kanal“,) die dabei sein müssen,„Den Stars auf den Fersen“! Tausende „likes“!) Was immer wo gerade los ist, man muss dabei sein, es muss davon berichtet werden!

Talkshows, wo sich weiß wer, zu weiß welchem Thema outet, je persönlicher desto besser, je peinlicher, desto höher die Einschaltquoten. Paparazzi auf der Jagd nach dem Privatleben der Stars.

„Kann eine Hormontherapie die Ehe von William und Megan retten? Hatte Ernst-August einen Alkohol-Rückfall? Sebastian Kurz in Badehosen! Eine Sensation!“

Zu allem und jedem muss der eigene Senf dazugegeben werden.

 

Auch diese Personen leben im Mangel. Es ist vielleicht kein materieller, es ist ein sozialer Mangel, das Bedürfnis dazuzugehören, mitreden zu können. Wissen ist Macht! Ist das Bedürfnis nach Information vielleicht eine Strategie gegen das Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeschlossen-Seins? Das „Fremd-Erleben“ ein Ersatz für die eigene Faulheit, Feigheit, Leere?

 

Die Außenseiter

Den drei Gruppen gegenüber gestellt gibt es zwei Außenseiter

 

In der Familie des Bauern ist es der Jüngste, der sagt: Das brauch ich nicht. Ich hab genug! Schön blöd, sagen die anderen. Schön blöd! Ein Dummling eben!

 

Auch im Königshause gibt es jemand, der sagt: „Ich habe genug!“ Sie braucht nicht immer was Neues. „Da gibts ein zweites Handy gratis!“. Brauch ich nicht. Die Prinzessin findet das nicht lustig. Sie kann über die Kaufwut, den Wahn-Witz nicht lachen. „Spielverderberin!“ sagen die Anderen. Was ist bloß mit ihr los?. Sie muss krank sein, man muss sie „heilen“.

 

Diese Beiden leben in der Fülle und zeigen damit, dass es nicht die wohlhabende Ausgangsposition ist, und, dass man diese Haltung von verschiedenen Seiten finden kann.

 

Wollte man ganz salopp sagen, um was es in der Geschichte geht, so hieße das vielleicht „Fülle & Mangel mit Senf“.

 

 

 

Symbolik

 

Da die Sprache im Märchen symbolisch ist, wollen wir uns nun drei Begriffe genauer anschaun: Baum / golden / Gans

 

Märchensymbolik: „Kleines Handlexikon der Märchensymbolik“ Felix von Bonin,

Kreuz Verlag, ISBN 3 7831 1934 0

 

BAUM

Der Baum nährt den Menschen mit seinen Früchten, bietet Schutz und liefert Holz für vielfältige Anwendungen. So wird er zum Lebensbaum. Außerdem ist der Baum von menschähnlicher Gestalt: Krone-Kopf, Stamm-Rumpf, Wurzeln-Füße. Deshalb wird er mit dem Menschen verglichen: Er steht aufrecht wie der Mensch, wächst, vergeht, trägt Früchte, verliert sie usw.

 

Der Baum ist das Symbol für das Ich, eben der „Lebensbaum“.  Man denke nur an die Weltenesche der Kelten. Laut keltischer Mythologie kann der Baum nicht recht gedeihen, solange ein Drache an den Wurzeln nagt. Dieser Drache heißt Nydgir = „Neidgier“ ?!

 

GANS

Als Haustier steht die Gans für Geborgenheit und weibliche Aspekte, wie Nähren, Wärmen und Behüten. Gänse sind die Vögel der Aphrodite und stehen für Fruchtbarkeit und Neuschöpfung.

 

GOLD

Seine besonderen Eigenschaften machen das Gold zum Edelsten aller Stoffe und ordnen es an die Spitze des Grobstofflichen als Übergang zum Feinstofflichen. Gold ist relativ unzerstörbar und hat dadurch den Aspekt von Dauer und Ewigkeit. Gold/gelb ist die lichteste Farbe und wird mit der Sonne und dem Licht des Geistes in Verbindung gebracht. Psychologisch bedeutet es die Erlösung von Schwerem, Bedrückendem oder Hemmendem.

 

Wenn jemand einen Baum fällt, so kann er ihn mitnehmen, der Jüngste hat sich seinen „Lebensbaum“ also angeeignet und ist bis zu seinen Wurzeln gekommen. Dort hat er einen Schatz gefunden, den er unter den Arm nimmt, in seine Obhut, den ihm niemand mehr nehmen kann.

 

Subjektorientiert / objektorientiert

 

Bisher haben wir die dramatische Situation so gesehen, wie wir uns ein Theaterstück ansehen oder eine Erzählung lesen. Bei Märchen ist eine andere Sicht ebenfalls möglich und sinnvoll: Die verschiedenen handelnden Personen verkörpern je verschiedene seelische Kräfte und Möglichkeiten derselben Person. Gespielt wird das innere Drama eines Menschen mit mehreren Akteuren, welche die positiven und zerstörerischen Kräfte darstellen. In dieser Sicht bekommt der jüngste Sohn eine andere Bedeutung.

 

Er stellt die jüngste, noch am wenigsten ausgereifte Entwicklungsstufe des Ich dar, und zwar jene, die sowohl die Entwicklung des einzelnen Menschen als auch in der seelischen Entfaltung der Menschheit insgesamt zuletzt sich ausprägt. Der erste Sohn ist demnach die Personifizierung der Körperempfindung und des Materiellen, der zweite repräsentiert die Denkkraft des Bewusstseins. Der dritte Sohn aber steht für das Spirituelle, das die Führung erst noch antreten soll. Er stellt den Willen zur Ganzheit dar, einen Reifungsprozess, der dem dritten Sohn vorbehalten ist, und den die Psychologen Individuation nennen.

So erstaunt es auch nicht, dass die beiden Großen schon selbständig sind und sich zusammentun. Dass sie den Jüngsten so herablassend behandeln, ist vielleicht Ausdruck dafür, dass sie die herrschenden Kräfte des Ich spüren: Da ist etwas Neues im Werden. „Die Reife des Dritten wird auf unsere Kosten gehen!“. Wenn der Dritte gereift ist, verlieren sie ihre Souveränität und haben sich unterzuordnen. Sie bleiben Bauern, zwar im Reiche des Königs, doch der Jüngste wird eben der künftige König sein.[1]

 

Die beiden „Außenseiter“

Der eine ist ein männliches Wesen, und symbolisch gemeint, hat er den „Goldenen Ort“ (den Heiligen Raum in sich, den göttlichen Funken in sich, die ständige Gegenwart Gottes, den „Tempel des Heiligen Geistes“, oder wie immer man diesen Ort, diese Erleuchtung nennen mag) schon gefunden, und das bestimmt sein Planen und Handeln. Dieses Wissen muss ihm noch in Fleisch und Blut übergehen, er muss es im täglichen Leben ins Gefühl kriegen.

 

Die Prinzessin, die weibliche Seite ist so auf die Welt gekommen, dass sie es bereits gefühlsmäßig spürt. Sie muss lernen, dass dieses Gefühl eine geistige Einstellung bedeutet, die sich in ihren Taten umsetzt.

 

Wenn beide, Gespür und Umsetzung zusammenkommen, also das neue Herrscherpaar sind, ist spirituelles Erwachen geschehen.

 

 



[1] Franz Kaufmann:  “Was einer aus sich machen kann“ Weisheit im Märchen, Kreuz Verlag